Geschichte der TCM – Traditionellen Chinesischen Medizin

Das historische Quellenmaterial erstreckt sich über mehr als drei Jahrtausende. Diese Zeitspanne ist grob in drei Sozialepochen zu gliedern:

die vorkonfuzianische der Shang-(etwa 1500 bis 1050 vChr.) und Zhou-(1050 bis 256 vChr. Dynastien,

– die konfuzianische Epoche bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und

-die nachkonfuzianische Epoche der Republik China und der Volksrepublik China.

 

Auf konzeptioneller Ebene findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Heilsysteme, die mit wenigen Ausnahmen bis in die Gegenwart überliefert und praktiziert wurden. Nebeneinander, teils in einem und demselben medizinischen Werk, finden sich Theorien, die die Verursachung der Krankheiten auf Sündenfall, Dämoneneinfluss, Abweichung von normgerechtem Lebensstil oder Böswilligkeit verstorbener Ahnen oder Mitmenschen zurückführten. Sie lassen sich aber auch den unterschiedlichen Epochen und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zuordnen.

Ahnenmedizin

 

Die frühesten Quellen bilden Orakelknochen und Schildkrötenschalen, die etwa im 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beschriftet wurden. Den Texten kann man entnehmen, dass die Verursachung von Krankheiten in fast allen Fällen auf ein mögliches Einwirken verstorbener Ahnen oder Drittpersonen sowie auf böswillige Magie, also die Einwirkung noch lebender Mitmenschen, zurückgeführt wurde. Als entsprechende Vorbeugungs- und Heilmaßnahmen gelten Beschwörungen, Geschenke und Versöhnungsgaben. Shang-Herrscher war ein König, dem allein die Befragung und Deutung der Orakel und somit die Praxis der Ahnenmedizin oblag. Zu seiner Klientel zählte der kleine Kreis der herrschenden Elite, im Fall von Epidemien die gesamte Gesellschaft.

Religiöse Medizin

 

Während der zweiten Han-Dynastie (25 bis 220) entstanden verschiedene religiöse Heilsysteme als Teilaspekte von Bemühungen, gesellschaftspolitische Organisationsformen auf theokratischer Grundlage durchzusetzen. So hatte sich der General Zhang Xiu als erfolgreicher Kriegsherr in einem Gebiet Sichuans etabliert und begonnen, eine sowohl auf religiöser wie militärischer Grundlage ruhende neue soziale Hierarchie aufzubauen. Die zunächst als Heilkult erscheinende Bewegung ( Fünf Scheffel Reis) vertrat die Idee, dass Krankheit die gerechtfertigte Strafe für vergangenes Missverhalten sei. Für die Vergeltung seien aber nicht die Totengeister verstorbener Ahnen verantwortlich, sondern bestimmte Gottheiten. Diesen gegenüber sei vor allem Reue angebracht. Daher ließ Zhang Xiu die Kranken einkerkern. Die Zeit im Gefängnis sollten sie darauf verwenden, ihre vergangenen Sünden zu erkennen. Die Heilung sei nur dadurch möglich, dass der Kranke seine Sünden auf drei Blatt Papier schrieb, die für die Drei Herrscher Himmel, Erde und Wasser auf einem Berggipfel hinterlegt oder in der Erde vergraben und in einen Fluss geworfen wurden. Nachdem Chang Hsiu dem Mordanschlag des Generals Zhang Lu zum Opfer gefallen war, baute dieser ebenfalls ein theokratisches Herrschaftsgebilde auf. Zhang Lu folgte auch dem Konzept, dass menschliches Fehlverhalten von den Göttern durch Krankheit geahndet werde. Daher ließ er Verbrecher so lange ungestraft, bis sie zum dritten Mal rückfällig wurden. Ein weiterer Kult entstand im 2. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung als „Bewegung des Großen Friedens“ mit Zhang Jiao an der Spitze. Seine Heilungen bestanden in dramatischen öffentlichen Massenritualen, während der die Leidenden ihre Missetaten bekennen mussten. Hunderttausende strömten zu diesen Ritualen. In jahrzehntelangen militärischen Auseinandersetzungen zerschlug die Zentralregierung schließlich die theokratischen Staatswesen. Die Verteidigung der Anhänger Zhang Jiaos ging als Aufstand der Gelben Turbane in die Geschichte ein.

Geistermedizin

 

Eine Fortentwicklung der für die Shang-Kultur belegten Ahnenmedizin führte zur Dämonenmedizin, die schon Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung nachweisbar ist. Aus ihr wiederum ging die entsprechungssystematische Medizin hervor. Ausgangspunkt des Heilsystems der Dämonenmedizin ist die Annahme, dass Krankheiten durch die Einwirkung böswilliger Dämonen verursacht werden. Die so genannten wu-Zauberer verstanden sich zum einen auf die Kommunikation mit den Geistern der Verstorbenen und holten deren Ratschläge vor allem bei gesundheitlichen Beschwerden ein; zum anderen auf die Beeinflussung und Vertreibung von Dämonen, die unabhängig von bestimmten Verstorbenen das Universum bevölkerten. Die medizinische Praxis dieser wu-Zauberer wandelte sich allmählich zu einer reinen Dämonenmedizin.

 

„Die Dämonen sind ständig gegenwärtig, sichtbar und unsichtbar und benutzen jede Schwäche der Menschen zum Angriff. Nur wenn die von der eigenen Person ausgehenden Schutzgeister und Dämonen stark genug sind oder wenn man imstande ist, solche Wesen zu seinem eigenen Beistand zu gewinnen, deren Position in der metaphysischen Hierarchie höher ist als die der Angreifer, ist man vor den entsprechenden Bedrohungen geschützt oder im Krankheitsfall für den Gegenangriff gewappnet.“

 

Unschuld sieht die Dämonenmedizin als getreues Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse im Zeitraum vom 8. bis ins 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung: nahezu ununterbrochene Machtkämpfe und der zeitweilige Zerfall Chinas in Hunderte von Kleinstaaten, die „jeder gegen jeden“ kämpften. Als ursprüngliche Heilverfahren der Dämonenmedizin sind wahrscheinlich die Nadelbehandlung (Akupunktur), das Brennen (Moxibustion) und die Massage anzusehen. Ziel ihrer Anwendung war, die Eindringlinge zum Verlassen des Körpers zu zwingen. Später wurden diese Verfahren in die entsprechungssystematische Medizin integriert. Der Kampf gegen die dämonischen Angreifer wurde nun auf der Grundlage von „Verboten“ oder stark wirksamen Arzneidrogen geführt. Erstere wurden von Exorzisten oder der betroffenen Person selbst ausgesprochen oder niedergeschrieben; Letztere konnte man einnehmen oder als Amulett mit sich führen. Die auf dem Grundkonzept der Dämonenmedizin basierenden Vorbeugungs- und Heilverfahren wurden in der Folgezeit von Autoren unterschiedlichster Bildungsstufen zur Anwendung empfohlen und behielten bis in die Gegenwart einen herausragenden Stellenwert in der medizinischen Versorgung der chinesischen Bevölkerung.

Entsprechungsmedizin

 

Die Heilsysteme, die als Entsprechungsmedizin bezeichnet werden können, beruhen auf dem Paradigma, dass die Phänomene der sichtbaren und der unsichtbaren Umwelt in gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Dabei lassen sich ältere magische Konzepte („Entsprechungsmagie“) von späteren systematischen unterscheiden. Letztere wurden zu einem zunehmend detaillierten System entwickelt unter Zuhilfenahme der Yin-Yang-Lehre und der Theorie der Fünf-Elemente-Wandlungsphasen. Ihre Grundlagen entsprechen wiederum den in derselben Epoche konzipierten gesellschaftspolitischen Vorstellungen der konfuzianischen Staatsideologie.

 

Zwei Beispiele zur Veranschaulichung der Entsprechungsmagie (aus: Shan-hai ching, „Klassiker der Berge und Meere“, niedergeschrieben im Zeitraum 8. bis 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung): „Es gibt dort ein Kraut, das keine Früchte hervorbringt. Sein Name ist ku-jung. Isst man davon, so bekommt man keine Kinder.“ – „Bogen- und Armbrustsehnen helfen bei schwierigen Geburten, wenn die Nachgeburt ausbleibt.“

 

Schien zuvor der Einfluss von Dämonen allgegenwärtig, so waren es in der sich entwickelnden entsprechungssystematischen Medizin Einflüsse und Ausstrahlungen aller nur erdenklichen Naturphänomene, mit denen man in Einklang leben musste: Himmelsrichtungen, Gestirne, Lebensmittel, Himmel und Erde, Regen und Wind, Hitze und Kälte. Es wurde weniger eine exakte Anatomie in diesem Heilsystem entwickelt, sondern eher ein hoch kompliziertes spekulatives System physiologischer Vorgänge, das die Wirkungen und Wandlungen der vielfältigen Einflüsse und Ausstrahlungen mit den weltanschaulichen Konzepten der Yin-Yang-Lehre und der Lehre von den Fünf-Elemente-Wandlungsphasen zu verbinden suchte.

 

„Die von außen aufgenommenen und körpereigenen Einflüsse werden in einem komplizierten Leitbahnsystem durch den Organismus geleitet. Diese Leitbahnen können von Stauungen und Verstopfungen betroffen werden, die es gegebenenfalls zu durchstoßen gilt. (…) In metaphorischer Anlehnung an staatswirtschaftliche Organisationsformen enthält der Organismus u.a. so genannte „Kornspeicher“ (cang) und „Paläste“ (fu), zwischen denen ein geregelter Austausch von Einflüssen stattfinden muss.“

 

Vorbeugungs- und Heilmaßnahmen wurden entsprechend dieser Systematik entwickelt. Grundsätzlich ging es darum, Überflusserscheinungen „abzuleiten“ und Mangelerscheinungen „aufzufüllen“. Ziel war eine Harmonisierung der Strömungen und Wandlungen im Organismus. Dies entsprach den Vorstellungen der Konfuzianer zur sozialen Ordnung. So lange der Konfuzianismus in China bestimmend war, schützte die herrschende Schicht die entsprechende Medizin als die offiziell einzig zulässige. Dadurch wurde ein archaisches Heilsystem bis in die Neuzeit hinübergerettet. Das klassische schriftliche Zeugnis Huangdi Neijing stammt etwa aus dem 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. An Heiltechniken werden hier vor allem die wahrscheinlich der Dämonenmedizin entlehnten Verfahren des Nadelns und Brennens dargelegt. Einige Passagen enthalten Hinweise auf Massage, Waschungen und heiße Pressungen. Es werden auch einige Arzneidrogen erwähnt. Deren Anwendung war jedoch offensichtlich noch nicht gemäß den theoretischen Grundlagen der entsprechungssystematischen Medizin vorgesehen. Die versuchsweise systematische Integration bestimmter Arzneidrogen in dieses Heilsystem erfolgte erst anderthalb Jahrtausende später.

Naturkundliche Medizin

 

Die ältesten medizinischen Grundlagenwerke, die noch heute im Gebrauch sind, werden Kaisern zugeschrieben, die mehrere Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung gelebt haben sollen. Das sind jedoch Legenden. Bekannt sind das Shennong ben cao jing, eine Pflanzenheilkunde, und das Huangdi Neijing, eine ausführliche Darstellung sowohl der Diagnose- und Therapieverfahren als auch der Akupunktur. Nach Beginn unserer Zeitrechnung entstand das Shang Han Lun, eine Abhandlung über Kälte-Krankheiten. Sie gilt als die älteste klinische Abhandlung der Medizingeschichte überhaupt. Aus der Zeit der Ming-Dynastie (1368 bis 1644) stammt eine Reihe berühmter Schriften, darunter das Ben Cao Gang Mu, ein Kompendium der Materia Medica.

 

Mit Beginn der jesuitischen Mission in Fernost nahm auch der medizinische Austausch zwischen Europa und Ostasien einen Aufschwung. In Japan hatten Jesuiten bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die einheimische Medizin beobachtet, wie eine Fülle von Bemerkungen in ihren Briefen, die Aufnahme sinojapanischer Fachbegriffe in ihre Wörterbucher und ein Vergleich von westlicher und japanischer Medizin durch Luis Frois zeigt. Ab Beginn der Qing-Dynastie (1644-1912) wirkten Jesuiten auch in China am kaiserlichen Hof als Astronomen, Geographen, Maler, Architekten oder Mathematiker. Neben kürzeren Ausführungen in einigen ihrer Briefe findet man hier umfangreiche Übersetzungen chinesischer Texte, die durch den deutschen Arzt und VOC-Kaufmann Andreas Cleyer als Specimen Medicinae Sinicae, sive, Opuscula medica ad mentem sinensium (Frankfurt, 1682) publiziert wurden. Ebenso wichtig war der Druck von Clavis medica ad Chinarum doctrinam de pulsibus aus der Feder Michael Boyms. Die erste längere Abhandlung über die Moxa verfasste der in Batavia lebende niederländische Pfarrer Hermann Buschoff. Durch seine auch ins Deutsche und Englische übersetzte Schrift Het Podagra, Nader als oyt nagevorst en uytgevonden, Midsgaders Des selfs sekere Genesingh of ontlastend Hulp-Mittel (1674) wurde das japanische Wort mogusa (chinesisch ai) als Moxa in Europa etabliert. Der von Buschoff stimulierte niederländische Arzt Willem ten Rhijne (1647–1700) ging der Brenntherapie in der Niederlassung Dejima (Nagasaki, Japan) der Ostindien Kompanie weiter nach. Sein 1683 in London gedrucktes Sammelwerk enthält die erste ausführliche Abhandlung zur Nadelung, der er den Namen acupunctura gab. Durch ten Rhijne stimuliert, sammelte der deutsche Arzt Engelbert Kaempfer (1651–1716) ebenfalls in Japan weitere Informationen und Materialien, die er 1712 publizierte. Seine langen Aufsätze zur Akupunktur und Moxa wurden im Anhang seines in viele Sprachen übersetzten Japanbuches weit verbreitet. Während die Moxatherapie auf reges Interesse stieß, reagierten Autoritäten wie Georg Ernst Stahl oder Lorenz Heister auf ten Rhijnes und Kaempfers Beschreibungen der Akupunktur ablehnend – nicht zuletzt, weil beide mit dem Terminus Qi nicht zurechtkamen, so dass man den Eindruck gewinnen konnte, die Ärzte in Ostasien würden in den Bauch stechen, um Darmgase abzuleiten.

 

In einer neuen Lage befand sich China in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Westliche Mächte hatten mit Waffengewalt den Zugang zu den chinesischen Märkten erzwungen und den ersten (1839–1842) und zweiten Opiumkrieg (1856 bis 1860) geführt. Westliche Technik und Wissenschaft drang in der Folge ungehindert in den Alltag der städtischen Bevölkerung ein. In den Städten wuchs die Zahl derer, die ihre Krankheiten nach den importierten westlichen Methoden behandelt haben wollten, nicht mehr nach den hergebrachten. Diejenigen, die nach altem Handwerk zu heilen versprachen, wurden in die Enge getrieben. Es gab Überlegungen, diese zu verbieten, da sie als Hemmschuh für eine reibungslose Transformation in den westlichen Stil der Effektivität durch Rationalität gesehen wurden. So gerieten die traditionellen Diagnose- und Therapie-Verfahren Ostasiens zunehmend in Bedrängnis.

 

Nach der Gründung der Volksrepublik China kam es unter Mao Zedong zu einer staatlich vorangetriebenen Gegenbewegung. Es galt nun, die ländliche Bevölkerung eines riesigen Reiches bei begrenzten Mitteln ärztlich zu versorgen. Die Lösung sah man in der Pflege und Kontrolle der althergebrachten Heilkunst, die gerade in der ländlichen Bevölkerung verbreitet war. Neue Hochschulen für die chinesische Medizin wurden gegründet, alte Klassiker neu entdeckt und für die Moderne aufbereitet. Mit den „Barfußärzten“ – in Kurzlehrgängen ausgebildeten TCM-Ärzten – wurde die medizinische Versorgung flächendeckend organisiert.

 

Erst jetzt verbreitete sich die Bezeichnung „chinesische Medizin“ (中医学) , in der englischen Übersetzung mit dem Zusatz „traditional“ und der Abkürzung „TCM“. In China bezog sich der Begriff oft weniger auf die traditionelle Medizin im umfassenden Sinn als auf das neu geschaffene Gesundheitswesen.